Immer mehr Luchse im Schwarzwald

Leider herrscht aber ein kleiner Männchen-Überschuss

Von Wolf Hockenjos / Foto Klaus Echle

Für das Luchs-Monitoringteam der Freiburger Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt FVA) wird das Jahr 2016 wohl zum arbeitsreichsten, wohl auch zum aufregendsten seit über einem Jahrzehnt werden. Auf Trab gehalten wurde die Spezialistentruppe um Dr. Micha
Herdtfelder von (sage und schreibe!) fünf verschiedenen männlichen Luchsen, die zweifelsfrei bestätigt werden konnten. Für den größten Arbeitsaufwand hatte zunächst Luchs Friedl gesorgt, der im April 2015 am Rohrhardsberg eingefangen und mit einem Halsbandsender versehen wieder freigelassen worden war. Nach einer von den Medien vielbeachteten Wanderung quer durch Baden-Württemberg bis kurz vor Ulm und zurück zur Oberen Donau war sein Sender erwartungsgemäß nach einem Jahr verstummt, sodass das Team bemüht war, Friedl an einem frisch gerissenen Reh zum Austausch der Batterie ein zweites Mal einzufangen. Die Überraschung war groß, als sich am Riss neben diesem auch noch ein weiterer männlicher Luchs einfand, der besendert werden konnte und fortan an Friedls Stelle per SMS Daten über sein Revier, seine Pirschgänge und sein Beuteverhalten lieferte; Friedls Halsband hatte sich erwartungsgemäß (an seiner Sollbruchstelle) im April 2016 gelöst. Wie sich anhand von Schweizer Fotofallenbildern an der individuellen Fleckung seines Fells feststellen ließ, war der neue Senderluchs, im Gegensatz zu seinem aus dem Jura stammenden Vorgänger, aus den Schweizer Alpen zugewandert, weshalb er den Namen Tello erhielt, frei nach dem schweizerischen Nationalhelden.
Beide verhielten sich weiterhin vorbildlich, rissen Rehe und Gämsen, ohne sich an Nutztieren zu vergreifen. Zwar hatte der Landesjagdverband für beide die Patenschaft übernommen, dennoch mehrten sich in Teilen der Jägerschaft die Anzeichen von Unmut: Tello hatte seit Beginn seiner Überwachung ein neues Territorium am Hechinger Albtrauf gefunden und dort 37 Rehe und eine Gämse, möglicherweise auch ein Mufflon gerissen. Dies zwar auf einer Fläche von 265 Quadratkilometern, doch im Zeitraum eines halben Jahres. Kein Wunder, dass sich das Monitoring-Team immer häufiger mit Verschwörungstheorien konfrontiert sah, mit dem Verdacht, die Luchse könnten illegal ausgewildert worden sein. Zwar sind dies nachgewiesenermaßen substanzlose Unterstellungen, nicht anders als jene, derer sich seit dreißig Jahren die Luchs-Initiative Baden-Württemberg e. V. zu erwehren hat. Doch wie sich zeigt, scheinen hier alle Beteuerungen und Bemühungen um Aufklärung, wie sie vom Monitoring-Team im Rahmen eines wissenschaftlichen Transferprojekts geleistet werden, scheinen auch all die vertrauensbildenden Maßnahmen der vor 12 Jahren vom Stuttgarter Ministerium für Ländlichen Raum eingesetzten Arbeitsgruppe Luchs und Wolf wirkungslos zu verpuffen, wie paritätisch sie auch besetzt sein mag von den Umweltverbänden über den Schwarzwaldverein bis zum Bauern- und Landesjagdverband. Würden nächstens wohl auch bei uns, wie seit Jahren schon im Bayerischen Wald, kriminelle Dunkelmänner zur Selbsthilfe greifen?
Luchse leben gefährlich. Am 20. September 2016 wurde Tello bei Genkingen, wie von der örtlichen Polizeidienststelle bestätigt, von einem Auto erfasst, wobei sich das enderhalsband löste, das danach vom Team an der Straße geortet und geborgen werden konnte. Die Tatsache, dass jedoch auch im Oktober noch Rehrisse in diesem Raum festgestellt wurden, spricht einstweilen dafür, dass der Kuder den Unfall überlebt hat.
2016 wurden in Baden-Württemberg noch drei weitere Luchse bestätigt: im Hegau, im Belchengebiet und im zentralen Schwarzwald, auch sie mit hoher Wahrscheinlichkeit männliche Tiere, wie die Luchsexperten versichern. Denn anders als Wölfe pflegen stets nur Luchskuder auf der Suche nach neuen Habitaten abzuwandern, während Luchsinnen zur Sesshaftigkeit neigen. Von der Entstehung einer baden-württembergischen Luchspopulation kann daher, mag sie in den Medien noch so oft beschworen werden, leider nicht die Rede sein. Vielmehr ist absehbar, dass sich die Junggesellen zu Beginn der winterlichen Ranzzeit erneut auf Wanderschaft begeben werden, was angesichts der Dichte des hiesigen Straßen- und
Fernstraßennetzes wie auch der allzu wenigen Querungshilfen zwangsläufig zu einem gesteigerten Risiko und zu erhöhter Unfallgefahr (auch für die Verkehrsteilnehmer) führen wird. Schon der sog. „Donautal-Luchs“, der sich ab 2005 für anderthalb Jahre im Raum Beuron aufgehalten hatte, war im Winter 2006 auf der Suche nach einer Partnerin nach Norden abgewandert, um an Neujahr 2007 auf der A 9 bei Merklingen von einem Auto erfasst und getötet zu werden – ein Schicksal, das einem männlichen Luchs auch bereits am Sylvestertag 1988 auf der Rheintalautobahn bei Bad Krozingen widerfahren ist.
Denn so lange schon versuchen immer wieder männliche Luchse aus dem Schweizer Jura, aus den Vogesen und nun sogar aus den Alpen, wo immer seit den 1970er Jahren Wiedereinbürgerungsprojekte gestartet worden waren, auf der rechtsrheinischen Seite Fuß zu fassen. Dass der Schwarzwald, die Alb und der Schwäbisch-Fränkische Wald geeigneten Lebensraum für über hundert Luchse bieten, wurde 2014 ein weiteres Mal im Rahmen einer preisgekrönten Dissertation1 bestätigt. Klar ist auch, dass die Vision einer
gesamteuropäischen Luchspopulation, wie sie als Zielvorgabe bis 2020 durch die Nationale
Biodiversitätsstrategie anno 2007 formuliert worden ist, nicht ohne den Trittstein Baden-
Württemberg erreichbar ist, mag das 2016 im Pfälzerwald gestartete Wiedereinbürgerungsprojekt noch so erfolgversprechend verlaufen. Was läge näher, als durch
bestandesstützende Maßnahmen, zumindest durch Zuführung der einen oder andern Luchsin, eine Bestandesgründung auch im Musterländle zu ermöglichen? An Ökosponsoren, die sich an den Kosten für ein derartiges Projekt beteiligen, würde gewiss auch in Baden-Württemberg kein Mangel herrschen.
Doch die im Landesjagdverband organisierte Jägerschaft sträubt sich noch immer gegen jedwede künstliche Nachhilfe; dies mit dem allzu durchsichtigen Verhinderungsargument:
„Nur, wenn er von allein kommt, ist uns der Luchs willkommen!“ Wohl wissend, dass er von allein nicht kommen wird, von weiteren Junggesellen vielleicht abgesehen. Dass Baden-
Württemberg mittlerweile auch noch „Wolfserwartungsland“ geworden ist, dass Wölfe von alleine im Begriff sind einzuwandern, verschärft die Abwehrhaltung auch gegen den Luchs.
Weshalb Bauern und Schafhalter derzeit Sturm laufen; an einer differenzierten Einschätzung potenzieller Nutztierschäden durch große Beutegreifer scheint ihnen nicht gelegen zu sein.
Dass das Einsickern der Wölfe eine ganz andere Konfliktkategorie befürchten lässt als Luchse, zeigt das unauffällige Verhalten der fünf Luchskuder. Dennoch hat sich der
Bauernverband soeben erst wieder neu positioniert und sich vehement gegen eine aktive
Wiederansiedlung des Luchses ausgesprochen, wie die Badische Bauernzeitung vom 1. 10.
2016 berichtet: „BLHV-Präsident Werner Räpple befürchtet massive Nutzungskonflikte zwischen Land- und Forstwirtschaft und einer wiederangesiedelten Luchspopulation aufgrund der Vorgaben des europäischen Artenschutzrechtes.“
Vor solchem Hintergrund ist die zögerliche Haltung des Stuttgarter staatlichen Naturschutzes
wenig verwunderlich, der seit drei Jahrzehnten unverdrossen mit der fehlenden Akzeptanz von Bauen und Jägern argumentiert. Als ob das Naturschutzgesetz (gem. § 39) nicht – als dritte Säule des Artenschutzes (neben dem Schutz vor Beeinträchtigung und Nachstellung sowie dem Biotopschutz) – auch die Wiederansiedlung von verdrängten Arten vorschreiben würde. Und als ob die Luchspräsenz nicht auch positive Einflüsse auf das Ökosystem Wald erhoffen ließe und damit auch auf die unter Verbissbelastung stöhnende Waldwirtschaft!
Stattdessen lassen wir zu, dass die fünf Luchskuder, ob mit oder ohne Sender, im kommenden Winter erneut kreuz und quer durch unser Bundesland geistern werden, ohne Chance, hier
jemals für Nachwuchs zu sorgen: Eine unterlassene Hilfeleistung, die an Tierquälerei grenzt!
Wollen wir wirklich zuwarten, bis sie allesamt wieder verschwunden sein werden auf ihrer
vergeblichen Partnersuche, verirrt im luchsleeren Raum, gewildert oder überfahren auf einer
Schnellstraße? So oder so, die Behandlung der Luchsfrage ist, wiewohl erörtert seit über drei
Jahrzehnten, wahrlich kein Ruhmesblatt für den baden-württembergischen Artenschutz.